Praxisrelevanter Anhang: Kombinationstherapie mit sSRI und sNRI zur individualisierten Steuerung von SERT- und NET-Wirkung
Einleitung und Zielsetzung
Die Kombinationstherapie aus selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (sSRI) und selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (sNRI, im engeren Sinne NRI) bietet die Möglichkeit, das Verhältnis der Hemmung von Serotonin- (SERT) und Noradrenalin-Transportern (NET) individuell zu steuern. Ziel dieses Anhangs ist es, die 24 praxisrelevanten Kombinationsmöglichkeiten aus Escitalopram oder Sertralin mit Reboxetin oder Atomoxetin in sechs NE:SERT-Verhältnissen systematisch darzustellen und differenziert zu analysieren. Neben einer umfassenden Tabelle werden die pharmakologischen, klinischen und praktischen Unterschiede der Substanzen, das Nebenwirkungsprofil, rezeptorspezifische Effekte sowie klinische Empfehlungen und Strategien zur Nebenwirkungssteuerung erläutert. Der Anhang richtet sich an Fachärzt:innen, Psychiater:innen und klinisch tätige Apotheker:innen, die eine individualisierte, evidenzbasierte Antidepressivatherapie anstreben.
1. Tabelle: 24 Kombinationsmöglichkeiten (Escitalopram/Sertralin × Reboxetin/Atomoxetin × 6 NE:SERT-Verhältnisse)
Legende
- NE:SERT-Verhältnis: Zielverhältnis der Hemmung von Noradrenalin- zu Serotonin-Transportern (z. B. 1:10 = SERT-dominant, 2:1 = NET-dominant)
- Wirkprofil: Erwartete Tendenz (SERT-dominant, balanciert, NET-dominant)
- Nebenwirkungsprofil: Ampelcode (
= günstig,
= moderat,
= ungünstig) und qualitative Einschätzung
- Rezeptorspezifische Nebenwirkungen: Zuordnung der wichtigsten Effekte (z. B. 5-HT3 → Übelkeit)
- sSNRI-Vergleich: Monopräparat mit ähnlichem Verhältnis (z. B. Duloxetin ≈ 1:10)
Tabelle: Übersicht der 24 Kombinationen
| SSRI + NRI | NE:SERT | Wirkprofil | Nebenwirkungsprofil | Rezeptorspezifische Nebenwirkungen | sSNRI-Vergleich |
|---|
| Escitalopram+Reboxetin | 1:10 | SERT-dominant | günstig | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion | Duloxetin (1:10) |
| Escitalopram+Reboxetin | 1:5 | SERT-dominant | / leicht erhöht | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion | Duloxetin (1:10) |
| Escitalopram+Reboxetin | 1:2 | SERT-dominant | moderat | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, α1: Blutdruck | Milnacipran (1:2) |
| Escitalopram+Reboxetin | 1:1 | balanciert | moderat | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, α1: Blutdruck | Milnacipran (1:1) |
| Escitalopram+Reboxetin | 1:0.625 | NET-dominant | / erhöht | α1: Blutdruck, H1: kaum, muskarinisch: kaum | Milnacipran (1:0.625) |
| Escitalopram+Reboxetin | 2:1 | NET-dominant | ungünstig | α1: Blutdruck, H1: kaum, muskarinisch: kaum | Levomilnacipran (2:1) |
| Escitalopram+Atomoxetin | 1:10 | SERT-dominant | günstig | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion | Duloxetin (1:10) |
| Escitalopram+Atomoxetin | 1:5 | SERT-dominant | / leicht erhöht | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion | Duloxetin (1:10) |
| Escitalopram+Atomoxetin | 1:2 | SERT-dominant | moderat | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, α1: Blutdruck | Milnacipran (1:2) |
| Escitalopram+Atomoxetin | 1:1 | balanciert | moderat | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, α1: Blutdruck | Milnacipran (1:1) |
| Escitalopram+Atomoxetin | 1:0.625 | NET-dominant | / erhöht | α1: Blutdruck, H1: kaum, muskarinisch: kaum | Milnacipran (1:0.625) |
| Escitalopram+Atomoxetin | 2:1 | NET-dominant | ungünstig | α1: Blutdruck, H1: kaum, muskarinisch: kaum | Levomilnacipran (2:1) |
| Sertralin+Reboxetin | 1:10 | SERT-dominant | günstig | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, H1: Sedierung | Duloxetin (1:10) |
| Sertralin+Reboxetin | 1:5 | SERT-dominant | / leicht erhöht | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, H1: Sedierung | Duloxetin (1:10) |
| Sertralin+Reboxetin | 1:2 | SERT-dominant | moderat | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, α1: Blutdruck, H1: Sedierung | Milnacipran (1:2) |
| Sertralin+Reboxetin | 1:1 | balanciert | moderat | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, α1: Blutdruck, H1: Sedierung | Milnacipran (1:1) |
| Sertralin+Reboxetin | 1:0.625 | NET-dominant | / erhöht | α1: Blutdruck, H1: Sedierung, muskarinisch: kaum | Milnacipran (1:0.625) |
| Sertralin+Reboxetin | 2:1 | NET-dominant | ungünstig | α1: Blutdruck, H1: Sedierung, muskarinisch: kaum | Levomilnacipran (2:1) |
| Sertralin+Atomoxetin | 1:10 | SERT-dominant | günstig | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, H1: Sedierung | Duloxetin (1:10) |
| Sertralin+Atomoxetin | 1:5 | SERT-dominant | / leicht erhöht | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, H1: Sedierung | Duloxetin (1:10) |
| Sertralin+Atomoxetin | 1:2 | SERT-dominant | moderat | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, α1: Blutdruck, H1: Sedierung | Milnacipran (1:2) |
| Sertralin+Atomoxetin | 1:1 | balanciert | moderat | 5-HT3: Übelkeit, 5-HT2A: sexuelle Dysfunktion, α1: Blutdruck, H1: Sedierung | Milnacipran (1:1) |
| Sertralin+Atomoxetin | 1:0.625 | NET-dominant | / erhöht | α1: Blutdruck, H1: Sedierung, muskarinisch: kaum | Milnacipran (1:0.625) |
| Sertralin+Atomoxetin | 2:1 | NET-dominant | ungünstig | α1: Blutdruck, H1: Sedierung, muskarinisch: kaum | Levomilnacipran (2:1) |
Erläuterung der Tabelle:
Die Tabelle zeigt, dass mit zunehmendem NE:SERT-Verhältnis (also steigendem NET-Anteil) das Wirkprofil von einer SERT-Dominanz (SSRI-ähnlich) über ein balanciertes Profil bis hin zu einer NET-Dominanz (NRI-ähnlich) wechselt. Das Nebenwirkungsprofil verschiebt sich dabei von serotonergen Nebenwirkungen (z. B. Übelkeit, sexuelle Dysfunktion) zu noradrenergen Nebenwirkungen (z. B. Blutdruckanstieg, Obstipation, Miktionsstörung). Rezeptorspezifische Nebenwirkungen sind je nach Kombination unterschiedlich ausgeprägt. Der Vergleich mit sSNRI-Monopräparaten (Duloxetin, Milnacipran, Levomilnacipran) ermöglicht eine praxisnahe Orientierung an bekannten Präparaten und deren Nebenwirkungsprofilen12.
2. Zielverhältnisse NE:SERT – Definition und rationale Auswahl
Die Auswahl der sechs Zielverhältnisse (1:10, 1:5, 1:2, 1:1, 1:0.625, 2:1) orientiert sich an den in vitro und in vivo gemessenen Hemmprofilen von sSNRI und den therapeutisch relevanten Dosisbereichen13. Duloxetin weist beispielsweise ein Verhältnis von etwa 1:10 (SERT:NET) auf, Milnacipran etwa 1:0.625, Levomilnacipran etwa 2:1 (NET:SERT). Diese Verhältnisse spiegeln die klinisch beobachteten Unterschiede im Wirk- und Nebenwirkungsprofil wider. Durch die Kombination von SSRI und NRI lässt sich das Verhältnis gezielt steuern und an die individuellen Bedürfnisse des Patienten anpassen.
3. Erwartete Wirkprofil-Tendenz bei verschiedenen NE:SERT-Verhältnissen
Bei niedrigen NE:SERT-Verhältnissen (z. B. 1:10, 1:5) dominiert die serotonerge Wirkung, was sich in einer ausgeprägten antidepressiven, anxiolytischen und emotional dämpfenden Wirkung äußert. Mit steigendem NET-Anteil (1:2, 1:1) treten aktivierende, antriebssteigernde Effekte in den Vordergrund, die bei bestimmten Subtypen der Depression (z. B. mit Antriebsmangel) erwünscht sein können. Bei NET-Dominanz (1:0.625, 2:1) überwiegen noradrenerge Effekte, die mit erhöhter Wachheit, gesteigertem Antrieb, aber auch mit vegetativen Nebenwirkungen einhergehen1345.
4. Nebenwirkungsprofil – Ampelcode-Kriterien und qualitative Einstufung
Der Ampelcode basiert auf der klinischen Erfahrung und der Literatur zu Nebenwirkungsraten der jeweiligen Substanzklassen und deren Kombinationen. SERT-dominante Kombinationen (

) sind meist gut verträglich, insbesondere bei niedrigen Dosen. Mit zunehmender NET-Komponente steigt das Risiko für noradrenerge Nebenwirkungen (

/

), wie Blutdruckanstieg, Obstipation und Miktionsstörungen. Die Kombination kann zudem das Risiko für serotonerge Nebenwirkungen (z. B. Serotonin-Syndrom) erhöhen, insbesondere bei hohen SERT-Anteilen und zusätzlicher serotonerger Medikation67.
5. Rezeptorspezifische Nebenwirkungen – Zuordnung
- 5-HT3: Übelkeit, Erbrechen (insbesondere bei SERT-dominanten Kombinationen)
- 5-HT2A: Sexuelle Dysfunktion, Schlafstörungen, emotionale Dämpfung
- α1-adrenerg: Blutdruckanstieg, Kopfschmerzen, Palpitationen (bei NET-Dominanz)
- H1-histaminerg: Sedierung, Gewichtszunahme (bei Sertralin stärker als bei Escitalopram)
- Muskarinisch: Mundtrockenheit, Obstipation (bei Reboxetin gering, bei Atomoxetin minimal)
- NET/adrenerg: Obstipation, Miktionsstörung, Tachykardie (bei Reboxetin und Atomoxetin dosisabhängig)
Diese Zuordnung ist entscheidend für die differenzierte Auswahl und Steuerung der Kombinationstherapie8459.
6. Vergleich mit sSNRI-Monopräparaten (Duloxetin, Milnacipran, Levomilnacipran)
Die sSNRI unterscheiden sich im NE:SERT-Verhältnis und damit im Wirk- und Nebenwirkungsprofil:
- Duloxetin: SERT-dominant (ca. 1:10), gute Verträglichkeit, häufig Übelkeit, geringere noradrenerge Nebenwirkungen12
- Milnacipran: balanciert bis leicht NET-dominant (ca. 1:0.625), mehr noradrenerge Nebenwirkungen (Blutdruck, Miktionsstörung)
- Levomilnacipran: NET-dominant (ca. 2:1), stärkere noradrenerge Effekte, Blutdrucksteigerung, weniger serotonerge Nebenwirkungen
Die Kombination von SSRI und NRI kann gezielt auf diese Profile abgestimmt werden, um die Vorteile zu nutzen und Nebenwirkungen zu minimieren.
7. Pharmakologie von Escitalopram vs. Sertralin
SERT-Affinität und Off-target-Profile
Escitalopram ist der S-Enantiomer von Citalopram und weist die höchste SERT-Selektivität aller SSRI auf. Es bindet sowohl an die orthosterische als auch an eine allosterische Bindungsstelle am SERT, was zu einer besonders vollständigen und schnellen SERT-Blockade führt. Dies erklärt die hohe Wirksamkeit und das günstige Nebenwirkungsprofil1011. Off-target-Effekte (z. B. H1, muskarinisch) sind minimal.
Sertralin ist ebenfalls ein hochpotenter SERT-Hemmer, zeigt aber eine gewisse Affinität zum Dopamintransporter (DAT), was zu einer leicht aktivierenden Wirkung führen kann. Sertralin hat eine höhere H1-Affinität als Escitalopram, was zu mehr Sedierung führen kann. Die Off-target-Profile unterscheiden sich auch hinsichtlich CYP-Interaktionen: Sertralin hemmt CYP2D6 und CYP2B6, Escitalopram wird primär über CYP2C19 und CYP3A4 metabolisiert11.
CYP-Interaktionen
- Escitalopram: CYP2C19, CYP3A4 (Metabolisierung), geringe Hemmung von CYP2D6
- Sertralin: CYP2D6, CYP2B6 (Hemmung), CYP3A4 (Metabolisierung)
Klinisch relevant sind diese Unterschiede vor allem bei Polypharmazie und bei Patienten mit genetischen Polymorphismen der CYP-Enzyme.
8. Pharmakologie von Reboxetin vs. Atomoxetin
NET-Selektivität und Rezeptorprofil
Reboxetin ist ein hochselektiver NET-Hemmer mit minimaler Wirkung auf SERT und andere Rezeptoren. Die Selektivität beträgt etwa 124:1 (NET:SERT), die Affinität zu anderen Rezeptoren (H1, muskarinisch, α1) ist sehr gering, was das Nebenwirkungsprofil günstig beeinflusst45.
Atomoxetin ist ebenfalls ein selektiver NET-Hemmer, weist aber eine etwas geringere NET-Selektivität auf und hemmt SERT in therapeutischen Dosen nur minimal. Atomoxetin ist metabolisch stabiler, wird primär über CYP2D6 abgebaut und hat ein günstiges Interaktionsprofil. Die Nebenwirkungen sind ähnlich wie bei Reboxetin, mit etwas mehr zentralnervösen Effekten (z. B. Schlaflosigkeit, Unruhe)3.
Metabolismus
- Reboxetin: CYP3A4 (Metabolisierung), geringe Hemmung von CYP2D6
- Atomoxetin: CYP2D6 (Metabolisierung), Interaktionen bei Poor Metabolizern möglich
9. Klinische Empfehlungen: Auswahlkriterien SSRI vs. NRI in Kombination
Indikationen
- SSRI-dominant (niedriges NE:SERT-Verhältnis): Depression mit Angst, emotionale Labilität, Zwangsstörungen, Patienten mit starker emotionaler Belastung oder Suizidalität
- Balanciert (1:1): Depression mit Antriebsmangel, Mischbilder, Patienten mit unzureichendem Ansprechen auf Monotherapie
- NET-dominant (hohes NE:SERT-Verhältnis): Depression mit starker Antriebsstörung, Hypersomnie, Konzentrationsstörungen, Patienten mit starker Fatigue
Kontraindikationen
- SSRI: QT-Verlängerung (insbesondere Citalopram, Escitalopram), Blutungsneigung, Hyponatriämie
- NRI: Hypertonie, Tachykardie, Prostatahyperplasie, schwere Obstipation
Praktische Empfehlungen
- Bei erwünschter emotionaler Dämpfung (z. B. bei starker Affektlabilität): SERT-dominante Kombination wählen
- Bei unerwünschter emotionaler Dämpfung oder Libidoverlust: NET-Anteil erhöhen, ggf. Bupropion als Alternative erwägen
- Bei starker Obstipation oder Miktionsstörung unter NRI: SERT-Anteil erhöhen oder Dosis reduzieren
10. Dosissteigerungen und Übertragbarkeit (Citalopram 20 vs. 40 mg) auf Escitalopram/Sertralin – Effekte auf Libido und emotionale Dämpfung
Studien zeigen, dass eine Dosissteigerung von Citalopram von 20 auf 40 mg nicht zu einer signifikanten Steigerung der antidepressiven Wirksamkeit führt, aber das Risiko für Nebenwirkungen (insbesondere QT-Verlängerung, sexuelle Dysfunktion, emotionale Dämpfung) erhöht12. Diese Beobachtung lässt sich auf Escitalopram übertragen, da auch hier höhere Dosen mit mehr Nebenwirkungen, aber nicht mit besserer Wirksamkeit assoziiert sind. Bei Sertralin ist die Dosis-Wirkungs-Kurve flacher, aber auch hier steigt das Risiko für Nebenwirkungen (insbesondere GI-Beschwerden, sexuelle Dysfunktion) mit der Dosis13.
Fazit: Dosissteigerungen über die Standarddosis hinaus sind bei SSRI selten sinnvoll und erhöhen das Risiko für emotionale Dämpfung und Libidoverlust. Eine Kombination mit NRI kann helfen, das Wirkprofil gezielt zu steuern und Nebenwirkungen zu minimieren.
11. Strategien zur Gegensteuerung von NET-induzierten Nebenwirkungen (z. B. Obstipation, Miktionsstörung) durch gezielte SERT-Erhöhung
NET-induzierte Nebenwirkungen wie Obstipation und Miktionsstörung treten vor allem bei hoher NET-Blockade auf (z. B. Reboxetin, Atomoxetin, Levomilnacipran). Eine Erhöhung des SERT-Anteils (z. B. durch Zusatz eines SSRI) kann diese Nebenwirkungen abmildern, da serotonerge Effekte die glatte Muskulatur des GI-Trakts und der Blase stimulieren und so die Motilität fördern149. Alternativ kann die Dosis des NRI reduziert oder ein Wechsel auf einen weniger NET-dominanten SNRI (z. B. Duloxetin) erwogen werden.
12. Bewertung klinischer Relevanz: Citalopram vs. Escitalopram vs. Sertralin hinsichtlich Emotionen und Libido
Citalopram ist ein Racemat, das sowohl S- als auch R-Enantiomer enthält. Nur das S-Enantiomer (Escitalopram) ist therapeutisch wirksam, das R-Enantiomer kann die Wirkung von Escitalopram antagonisieren und das Nebenwirkungsprofil verschlechtern. Escitalopram ist daher wirksamer und besser verträglich als Citalopram, insbesondere hinsichtlich QT-Verlängerung und sexueller Dysfunktion1011.
Sertralin ist ähnlich wirksam wie Escitalopram, hat aber ein etwas anderes Nebenwirkungsprofil: mehr GI-Beschwerden, etwas weniger QT-Risiko, aber mehr Sedierung und gelegentlich mehr sexuelle Dysfunktion151617.
Emotionale Dämpfung tritt bei allen SSRI auf, ist aber bei Escitalopram und Citalopram stärker ausgeprägt als bei Sertralin, vermutlich aufgrund der höheren SERT-Selektivität und der allosterischen Wirkung von Escitalopram1819.
Libidoeffekte: SSRI verursachen dosisabhängig sexuelle Dysfunktion (Libidoverlust, Anorgasmie, Erektionsstörung). Escitalopram und Sertralin sind beide betroffen, wobei Escitalopram in Studien eine etwas geringere Odds Ratio für sexuelle Dysfunktion aufweist als Sertralin und Citalopram2017.
13. Sicherheitsaspekte und Wechselwirkungen bei Kombinationen
Serotonin-Syndrom
Das Risiko für ein Serotonin-Syndrom steigt bei Kombination serotonerger Substanzen (SSRI, SNRI, MAO-Hemmer, Triptane, Opioide). Symptome sind Unruhe, Schwitzen, Hyperthermie, Tremor, Myoklonien, Verwirrtheit bis Koma. Die Kombination von SSRI und NRI ist in der Regel sicher, solange keine weiteren serotonergen Substanzen hinzugegeben werden und die Dosis im therapeutischen Bereich bleibt67.
QT-Verlängerung
Citalopram und Escitalopram können dosisabhängig das QT-Intervall verlängern. Bei Kombination mit anderen QT-verlängernden Substanzen (z. B. Antipsychotika, Makrolidantibiotika) ist Vorsicht geboten. Sertralin hat ein geringeres QT-Risiko.
CYP-Interaktionen
- Escitalopram: CYP2C19, CYP3A4 (Metabolisierung), geringe Hemmung von CYP2D6
- Sertralin: CYP2D6, CYP2B6 (Hemmung)
- Reboxetin: CYP3A4 (Metabolisierung), geringe Hemmung von CYP2D6
- Atomoxetin: CYP2D6 (Metabolisierung)
Blutungsrisiko
SSRI und SNRI erhöhen das Risiko für gastrointestinale und andere Blutungen, insbesondere in Kombination mit NSAR oder Antikoagulanzien. Bei Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko sollte die Kombinationstherapie sorgfältig abgewogen werden21.
14. Praktische Umsetzung: Dosisäquivalente Umrechnung und Titrationsschemata für Kombinationen
Dosisäquivalente (Orientierungswerte)
- Escitalopram: 10–20 mg/Tag (Standarddosis)
- Sertralin: 50–200 mg/Tag (Standarddosis)
- Reboxetin: 4–8 mg/Tag (Standarddosis)
- Atomoxetin: 40–80 mg/Tag (Standarddosis)
Titrationsschema (Beispiel)
- Start mit SSRI in niedriger bis mittlerer Dosis (z. B. Escitalopram 10 mg, Sertralin 50 mg)
- NRI einschleichen (z. B. Reboxetin 2 mg, Atomoxetin 25 mg), nach 1–2 Wochen steigern
- Dosisanpassung nach klinischem Ansprechen und Nebenwirkungen
- Zielverhältnis NE:SERT anhand der Dosisrelation und der bekannten Hemmprofile abschätzen
- Regelmäßige Kontrolle von Blutdruck, Puls, EKG (bei QT-Risiko), Nebenwirkungen und klinischem Verlauf
Hinweis: Bei Polypharmazie und Komorbiditäten ist eine individuelle Anpassung und ggf. Plasmaspiegelbestimmung sinnvoll.
15. Evidenzbasis: Studienlage zu SSRI+NRI Kombinationen (Wirksamkeit, Sicherheit)
Die Evidenz für die Kombination von SSRI und NRI stammt überwiegend aus offenen Studien, Fallserien und Metaanalysen. Die Kombination Escitalopram/Sertralin + Reboxetin/Atomoxetin ist pharmakologisch sinnvoll und wird in der Praxis zunehmend eingesetzt, insbesondere bei therapieresistenten Depressionen22. Die Wirksamkeit ist bei Non-Respondern auf Monotherapie erhöht, die Verträglichkeit ist vergleichbar mit Monotherapien, sofern die Dosis moderat bleibt. Das Nebenwirkungsprofil entspricht der Summe der Einzelwirkungen, ohne dass schwere unerwartete Nebenwirkungen gehäuft auftreten. Das Risiko für Serotonin-Syndrom ist gering, solange keine weiteren serotonergen Substanzen kombiniert werden.
16. Regulatorische und Leitlinienhinweise in Deutschland/Europa zur Kombinationstherapie
Die S3-Leitlinie Depression empfiehlt die Kombination zweier Antidepressiva nur bei Non-Response auf Monotherapie und nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung. Bevorzugt werden Kombinationen mit α2-Antagonisten (Mirtazapin, Mianserin) und SSRI/SNRI. Die Kombination SSRI + NRI ist nicht explizit empfohlen, aber auch nicht kontraindiziert, sofern keine pharmakodynamischen oder pharmakokinetischen Interaktionen bestehen und die Therapie engmaschig überwacht wird2312.
17. Zusammenfassung und klinische Handlungsempfehlungen
- Die Kombination von Escitalopram oder Sertralin mit Reboxetin oder Atomoxetin ermöglicht eine individualisierte Steuerung des NE:SERT-Verhältnisses und damit des Wirk- und Nebenwirkungsprofils.
- SERT-dominante Kombinationen eignen sich für Patienten mit Angst, emotionaler Labilität und starker Affektbelastung.
- NET-dominante Kombinationen sind bei Antriebsmangel, Fatigue und Konzentrationsstörungen indiziert, bergen aber ein erhöhtes Risiko für noradrenerge Nebenwirkungen.
- Die Auswahl des SSRI (Escitalopram vs. Sertralin) und des NRI (Reboxetin vs. Atomoxetin) sollte anhand des Nebenwirkungsprofils, der CYP-Interaktionen und der individuellen Verträglichkeit erfolgen.
- Dosissteigerungen über die Standarddosis hinaus sind bei SSRI selten sinnvoll und erhöhen das Risiko für emotionale Dämpfung und sexuelle Dysfunktion.
- Bei NET-induzierten Nebenwirkungen kann eine Erhöhung des SERT-Anteils oder eine Dosisreduktion des NRI helfen.
- Die Kombinationstherapie sollte nur bei Non-Response auf Monotherapie und nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen, mit regelmäßiger klinischer Kontrolle und Monitoring von Nebenwirkungen.
Klinischer Algorithmus (Kurzfassung):
- Indikation prüfen: Non-Response auf Monotherapie, spezifisches Symptomprofil (z. B. Antriebsmangel, emotionale Labilität)
- Kombination wählen: SSRI (Escitalopram/Sertralin) + NRI (Reboxetin/Atomoxetin) nach Nebenwirkungsprofil und Interaktionen
- Zielverhältnis festlegen: NE:SERT nach klinischem Bedarf (z. B. 1:10 für SERT-Dominanz, 2:1 für NET-Dominanz)
- Dosis titrieren: Einschleichen, Dosisanpassung nach Ansprechen und Nebenwirkungen
- Monitoring: Blutdruck, Puls, EKG, Nebenwirkungen, klinischer Verlauf
- Reevaluation: Nach 4–6 Wochen Wirksamkeit und Verträglichkeit prüfen, ggf. Anpassung oder Wechsel
18. Ausblick und Forschungsperspektiven
Die Kombinationstherapie mit SSRI und NRI ist ein vielversprechender Ansatz zur individualisierten Behandlung depressiver Störungen. Weitere randomisierte, kontrollierte Studien sind erforderlich, um die optimale Dosierung, das Nebenwirkungsmanagement und die Langzeitsicherheit zu evaluieren. Die Entwicklung von Biomarkern zur Vorhersage des Ansprechens auf spezifische NE:SERT-Verhältnisse könnte die Therapie weiter personalisieren.
Hinweis: Dieser Anhang basiert auf einer umfassenden Literaturrecherche und aktuellen Leitlinien. Die Empfehlungen sind als Orientierungshilfe zu verstehen und ersetzen nicht die individuelle ärztliche Entscheidung im Einzelfall.
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