Guten Tag,
mich beschäftigt diese Frage aktuell sehr.
Generell stelle ich mir die, hier beschriebenen, Szenarien auch sehr traumatisierend vor. Ich denke, ich spreche von den meisten Menschen, wenn ich sage, dass man freiheitsliebend und gerne selbstbestimmt ist. In dieses Grundbedürfnis (- und recht) einzuschreiten, diese zu übertreten und bewusst zu verletzen, könnte ich persönlich - trotz aller Objektivität und auch kurzweiliger Erfahrung auf einer geschützten Station (als Einsatz während meiner Pflegeausbildung) - schwer verkraften. Ich kann mir vorstellen, dass es ein komplexes und sensibles Thema ist. Grundsätzlich bin ich gegen Zwang und sehe Freiheit als wertvollstes Gut an.
Mein Bruder befindet sich zurzeit in einer Psychose. Diese wurde auch nach einem zweitätigen Aufenthalt in einer Klinik bestätigt. Zweitätig, weil - wie man sich vielleicht denken kann - er daraufhin vor der Tür meiner Eltern stand, verlautete, er sei wieder gesund und in seine - mit Alufolie gepolsterte - Wohnung fuhr. (Er konnte einmal nach langem Zureden, großem Hin- und Her, etc. überzeugt werden. Die Klinik ist jedoch auch fünf Minuten von meinem Elternhaus entfernt). Mein Bruder hat all sein Geld ausgegeben. Ist nicht mehr zur Arbeit gegangen. Wurde zweimal von der Polizei aufgegabelt, einmal, weil er seinen Autoschlüssel vergraben hat und in einem T-Shirt bei Minusgraden durch die Kälte gewandert ist. Er ist sehr paranoid, absolut uneinsichtig, getrieben, und manchmal kommt es mir vor, als befände er sich in einem Film, wo er auf der Flucht vor seinen Nachbarn ist, die ihn abhören, ausrauben oder ihm etwas Böses antun wollen. Er hört Stimmen, die ihm sagen, er solle sich umbringen. Er lügt, manipuliert und verschweigt viel. Wenn ich versuche, mit ihm zu sprechen, habe ich wieder das Gefühl, nicht durchzukommen, als würde ich an eine Wand stoßen und es fühlt sich einfach sinnlos an. (Meine Schwester hatte auch Schizophrenie).
Meine Schwester jedoch konnte man vergleichsmäßig leicht dazu überzeugen, sich behandeln zu lassen. Und glücklicherweise geht es ihr seit Langem wieder gut und sie hatte nur eine Phase.
Mein Bruder war hingegen schon immer sehr sozial zurückgezogen, "von Natur aus" misstrauischer, hat Vieles mit sich selbst ausgehandelt, ohne dass man wirklich Zugriff zu ihm hatte (auch ich als Zwillingsschwester nicht und wir hatten eigentlich immer eine gute Beziehung zueinander).
Jetzt ist er seit zwei Tagen nicht mehr erreichbar und wir machen uns alle Sorgen, insbesondere meine Eltern.
Mein eigentliches Problem (ich musste das einmal so ausführlicher aufschreiben, weil mir das meistens hilft): Man kann ihn ja nicht zwingen. Er konnte nach zwei Tagen ja auch aus der Klinik, obwohl er offensichtlich in einer akuten Psychose steckt. Prinzipiell muss er fremd- oder eigengefährdet sein/werden, damit er eine Behandlung bekommt? Kann man ihn zwingen, in einer Klinik auch Medikamente einzunehmen? Könnte man auch die Polizei rufen, wenn er offenkundig in einer Psychose steckt, weil er seltsame, abstruse Dinge sagt und macht, und ihn damit in eine Klinik bringen? Aber die Polizei, die ihn aufgegabelt hat und zu meinen Eltern bereits sagten, dass er wie auf Drogen wirkt, haben ja auch nichts weiter gemacht. Konnten sie vielleicht auch nicht. Keine Ahnung.
Ich verstehe aber wirklich nicht, wie man es sonst machen sollte. Er braucht Hilfe, er müsste eigentlich Medikamente nehmen, damit sich das Ganze nicht chronisch entwickelt, aber es zieht sich gefühlt so lange hin, weil man letztlich einfach nichts machen kann. Und diese Machtlosigkeit ist frustrierend. Es ist auch frustrierend, dass man sich wünscht, der eigene Bruder wird zu etwas gezwungen, das man selbst auch absolut abwehren würde.
Diese Erfahrungen, die hier beschrieben wurden, machen es nicht unbedingt leichter, ich möchte ja, dass er frei ist. Ich möchte nicht, dass er entmündigt wird. Gleichzeitig sehe ich es realistisch genug, um zu sagen, dass man ihn nicht überzeugen könnte. Ich sehe es einfach nicht. Nicht nach meinen Gesprächen mit ihm. Vielleicht bin ich zu pessimistisch. Aber ich möchte einfach nicht, dass er auf ewig mit Schizophrenie zu kämpfen hat, er ist erst Anfang zwanzig. Er hat noch sein ganzes Leben vor sich, ich will, dass er ein schönes Leben hat... Keine Ahnung, es ist frustrierend.
LG