nightwalker13
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22.10.24
Die Lizenz zu diagnostizieren - Wie eine deutsche Ärztegruppe die Deutungshoheit über, was als “normal” gilt, institutionalisiert und die Dreh-Tür Psychiatrie zur Meisterschaft treibt
Ein Versuch, die Frage nach der Handlungs(un)fähigkeit der Ärzteschaft zu beantworten im Rahmen eines BPE-Wettbewerbs (Bundesverband für Psychiatrieerfahrene e.V.)
von **********@********..***
“Heimsuchungen treffen tatsächlich alle Menschen gleich. Aber es ist schwer an sie zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen. Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute, er kann nicht lang dauern, es ist zu unsinnig und ohne Zweifel ist ein Krieg wirklich zu unsinnig, aber das hindert ihn nicht daran lange zu dauern. Dummheit ist immer beharrlich. Das merkte man, wenn man nicht immer mit sich selbst beschäftigt wäre …”
Versteht man psychiatrische Gewalt als Heimsuchung/Krieg und die Ärzteschaft als Entität, die mit sich selbst beschäftigt ist, ist das Zitat aus Camus “Die Pest” noch immer hochaktuell und zutreffend. Im Gegensatz zu Dr. Rieux, der sich mit stoischer Einsatzbereitschaft immer wieder der Beulenpest aussetzt, erscheinen Psychiater oft in Gruppen und versammeln sich um den (fixierten/sedierten) Patienten in einem isolierten Raum, ehe die Checkliste für Schizophrenie (robotisch) abgearbeitet wird. Alle Ärzte haben sich dem Menschen verpflichtet, doch während sich der (fiktive) Dr. Rieux unter Einsatz seines Lebens im wahrsten Sinne des Wortes die Hände schmutzig macht und mit dem Tod auf Tuchfühlung geht, kommt der Diagnostiker von heute im weißen Kittel, mit dem Stift, einem vorgefertigten Fragenkatalog und einer relativen fixen Idee, welches Verhalten als “krank”, d.h. “Schizophren”, “(hoch)psychotisch” oder ”schizo-affektiv”, gilt.
Die gewöhnliche, alltägliche Einleitungsfrage, die wohl auf Ansprechbarkeit oder Geistesgegenwärtigkeit des “Patienten” hindeuten soll - auch Verdachtsfälle werden bereits als solche bezeichnet, was immer bereits eine Krankheit voraussetzt - wie es denn (heute) gehe, stellt schon die erste Zwickmühle im kafkaesken Schloss des psychiatrischen “Prozesses” dar: ziemlich egal wie man antwortet, kann das Gesagte oder auch komplettes Schweigen (d.h. in der Akte “autistisch-schizophrenes Verhalten”) gegen einen ausgelegt werden. Man kann eigentlich nur verlieren, wenn man bereits aktenkundig ist oder durch Fremdanamnese “vor-”diagnostiziert wurde. Zudem verdeutlicht dieser Sachverhalt einen sehr wichtigen, oft unterschätzten Punkt, der im Kern des heutigen Diagnosesystems liegt: Welcher Juniorarzt wird in der Krankenhaushierarchie die Vordiagnose oder die “Einschätzungen” des Chefs schon öffentlich widersprechen? Wer über die Handlungsfähigkeit von deutschen Psychiatern sprechen will, sollte zumindest diese Überlegungen und Betroffenenerfahrungen zur Kenntnis nehmen…
Begreift man die Ärzteschaft als Interessengruppe im soziologischen Sinne, in all seinen Verflechtungen (Ärztekammer, Krankenversicherung und Pharmaproduzenten), Interessen (Stärkung und Förderung des Berufs im öffentlichen Bewusstsein und individueller beruflicher Erfolg), Notwendigkeiten (Personalmangel und Quotenerfüllung bei der Krankenbettbelegung) und (Gruppen-)dynamiken (“Group think” oder einfacher die blinde “Übernahme” von vorherigen Diagnosen oder Fremdanamnesen) bleibt vom weit verbreiteten Glauben an die Erhabenheit und Unabhängigkeit des medizinischen Sachverständigen in der Praxis wenig übrig. Schenkt man den Ärzten Gehör, so wird stets vom Personal- und Ressourcenmangel berichtet. Manche Zeitungen berichten auch von “Patienten”, die zu lange fixiert wurden, weil “nicht genügend Personal zur Verfügung stand”. Laut WHO Bericht jedoch wird nirgends so viel pro Kopf ausgegeben wie in Westeuropa und die Verkäufe von Psychopharmaka kennen seit den 1960ern nur eine Richtung: steil und kontinuierlich nach oben. Die Anzahl der Psychiater pro 100.000 beträgt im europäischen Schnitt 44,8 (als Vergleich: weltweit sind es 13)-zählt man ergänzende Bereiche aus dem Bereich geistige Gesundheit hinzu, wie Kinderpsychotherapeuten und Personal, liegt die Zahl noch höher. Doch hätten mehr Ressourcen in einem Falle wie Gustl Mollath, der nachweislich fast ein Jahrzehnt zu Unrecht auf Grundlage von Hörensagen seiner Lebenspartnerin und mit Billigung von Gerichten und Gutachtern eingesperrt war und generell als Symbol für psychiatrische Gewalt bekannt ist, wirklich etwas verändert? In der Troika zwischen Richter, Psychiater und medizinischem Gutachter kam es zu einer “Verschwörung der Gleichgültigkeit”, in der zwar nicht ein Einzelner gezielt dem Patienten/Betroffenen schaden wollte, es aber im Geflecht auch keinen Anreiz gab, diagnostische Fehler zu beheben oder zu korrigieren. Das Gericht verlässt sich auf den Gutachter als seine “Augen” und der Arzt “berät” den Gutachter, der Arzt gibt aber die Verantwortung für eine Einweisung ans Gericht ab. Alle können in Form eines weiteren abgerechneten Falles profitieren und sind zumindest auf dem Papier abgesichert. Das Risiko, grobe Fahrlässigkeit oder Rechtsbeugung nachgewiesen zu bekommen, läuft gegen null. Es “lohnt” sich also einfach weiterzumachen und der Aufwand, die Unterbringung zu verkürzen oder zu beenden, ist für das Individuum in diesem Kontext verhältnismäßig hoch. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen, aber solange das politische Bewusstsein für diese Form von Unrecht nicht mehrheitsfähig ist, wird auch wenig oder keine Aufarbeitung stattfinden. Frauen in den 1950ern wurde auch wenig Gehör geschenkt, wenn sie eine Vergewaltigung anzeigen wollten oder ein Schwarzer, der ebenfalls in dieser Epoche eine rassistisch motivierte Gewalttat ansprach…
Der Kunstgriff der Ärzteschaft besteht darin zu behaupten, dass sämtliche Verantwortung, die ein Akteur, der über Ressourcen und Deutungsmacht verfügt, automatisch per definitionem auszeichnen, an die Politik abzugeben: Wie die Korrespondenz mit dem BPE zeigt, ist der derzeitige Missstand auf die Politik und nicht auf die Medizin zurückzuführen. Der Verweis, dass Ärzte auch heute im Rahmen der Menschenwürde praktizieren müssen, erscheint da mehr als hohle PR-Floskel, die in der Praxis keine Verwirklichung findet.
Der derzeitige Diskurs um Lea de Gregorios Buch “Unter Verrückten sagt man du” und der Kommentar vom (lebensfremden) Harvard Psychiater, P. Sterzer, (vgl. FAZ vom 24.7.24) zeigen eine weitere Besonderheit in Bezug auf die Ärzteschaft auf: Statt den Status quo zu rechtfertigen, schwingt sich der Leiter der Klinik an die Spitze der kritischen Bewegung und spricht gegen psychiatrische Gewalt. PR-technisch gesehen ein exzellenter Zug vom Feinsten. “Einweisungen sind mein Brot und Butter, aber ich weiß als Leiter (der Abteilung) nichts von einem Einzelfall und ich bin Pro-Patientenrecht und Contra-Gewalt” - eine ähnliche Ich-Spaltung wird just jenen “behandelten” Menschen vorgeworfen und wurde bei Wächtern in der Geschichte und in Experimenten beobachtet! Wieso durchlaufen Psychiater keine Selbsterfahrung, wie Psychologen es machen müssen? Was ist mit dem Prinzip “primum non nocere” - das Grundprinzip “zuerst nicht zu schaden”? Haben die Gelehrten der Anatomie jemals überhaupt denn einige Minuten fixiert verbracht - geschweige denn Stunden und Tage? Wissen Pflegekräfte, wie es ist, über Monate nicht an die frische Luft zu dürfen und immer denselben “Kantinenfraß” vorgesetzt zu bekommen? Fixe Bettzeiten und Fernsehen bei gutem Benehmen, aber nur bis 21:00? Entzug von Medien und keinen Zugriff auf Bücher? Rationierung des Essens? Nicht-Aushändigen der Wahlunterlagen?
Innerhalb dieses Machtvakuums, in dem sich die Ärzteschaft Deutungshoheit erstritten hat (vgl. Rent-Seeking Studie in der amerikanischen Psychiatrie bis 1914 von Geloso aus dem Jahre 2021) könnte man ja meinen, dass wir im Land der Menschenrechte auch genügend Kontrollmechanismen haben: auf dem Papier auch hier zur Genüge. Doch Versprechen kosten nichts, und die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter sitzt 2023 finanziell auf dem Trocknen und kann die Kontrollarbeit nicht durchführen. Kontaktiert man Amnesty Deutschland in so einer Angelegenheit, kommt die generische Mail, dass Zustände in deutschen Gefängnissen und “Sorgerechtsstreitigkeiten” generell nicht beantwortet werden. Auch die FDP, als sog. freiheitliche Partei, antwortet mit Verweis auf den statisch wohl eher seltenen Sonderfall, dass einem Dialysepatienten mit Psychose eben geholfen werden muss, ob er/sie will oder nicht. Wieso gibt es mehr als doppelt so viele Einweisungen in Deutschland und Österreich als in Frankreich, wo die Ausgaben pro Kopf ähnlich hoch sind? Warum unterscheidet sich die durchschnittliche Verweildauer in Psychiatrie in europäischen Ländern so stark? Gibt es in auf der einen Seite der Landesgrenze etwa mehr “Kranke”, oder sind manche Krankenhäuser effizienter bei der Behandlung von Krankheiten, wie es uns vielleicht die Ärzteschaft weismachen will, wenn sie versucht, diese Unterschiede zu rechtfertigen?
Während in der Forensik zumindest ein Flyer mit Anlaufstellen ausgegeben wird, bei denen man sich als Patient beschweren kann, werden “normal Untergebrachte” (nach BGB und Landesgesetzen) nicht über ihre Rechte unterrichtet. Eine innovative, interessante Studie aus Österreich vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie versucht zumindest die Perspektive der Patienten selbst sowie etwa den Patientenanwälten im Alltag zu Papier zu bringen. Darin wird auch beschrieben, dass Patienten oft Schikanen ausgesetzt werden, die manchmal die Qualität/Dynamik eines “Stanford Prisoner Experiments” annehmen: (…)
Wenn du einmal einen Kugelschreiber brauchst, kriegst du den ganzen Tag keinen
Kugelschreiber. Oder wenn du einen Durst hast und du willst einen Liter Wasser,
der dir zusteht, kannst du fünf Mal hingehen vor das Kabäuschen von den Pflegern
– ‚Kann ich bitte eine Flasche Wasser haben?‘ – und du kriegst sie nicht. (…) Psychische Gewalt nennt man das. (…)
Aufklärung ist bekanntermaßen der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Der Ärzteschaft mangelt es an einem klaren Willen gegen die Verbrechen, die nun mal in einem solchen System finanziell lohnend sind und auch geschehen, vorzugehen.
Es mangelt an Rechenschaft (Accountability) und die Praxis zeugt von einer epistemologischen-disziplinären Blindheit, um nicht zu sagen Hybris: anhand von einigen Fragen feststellen zu wollen, ob jemand im “Hier und Jetzt” ist. Visiten sollten auf Wunsch des Patienten aufgezeichnet werden - ähnlich wie Body-Cams bei der Polizei.
Es mangelt an einer kritischen Introspektion der Zunft im Allgemeinen und des Wohlergehens des Einzelnen im Spezifischen, der/die meist mit Betonspritzen, Isolation und Fixierung gefügig gemacht wird. Wie viele Mollaths braucht es, bis ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel überhaupt nur angedacht wird? Wie lange bis sich die Ärzteschaft als agierende Partei sieht, mit eigenem Ermessensspielraum, Deutungsspielraum und Macht - de jure und de facto (agency) und nicht als “Opfer” des Gesundheitssystems und Bürokratiezwang? In China zahlt man seinen Arzt, wenn man gesund ist, warum werden Psychiater dann für “volle Betten” finanziell belohnt? Wer über Ressourcen verfügt und Gutachten erstellt, ist auch verantwortlich für die juristischen Konsequenzen, die daraus resultieren.
Es mangelt an Selbsterfahrung und dem epistemologischen Trugschluss, mit westlicher Medizin alles auf Gedeih und Verderb (medikamentös) bis aufs i-Tüpfelchen kurieren zu wollen… Dieser Ansatz von Ausmerzen ging jedoch schon von 1939 bis 1945 schief und Steven Spielbergs “Minority Report”, in dem magische Wesen Verbrechen vorhersehen und Menschen prophylaktisch einsperren, scheint aktueller denn je.
Wer vertritt eigentlich die Betroffenen im demokratischen Diskurs? #Berufspolitiker #Gesundheitssausschuss #MenschenrechteInDeutschland #Psychiatriegewalt #Piraten-Partei #metoo #madpride #MarcoMüllerHeppenheim #Psychiatrielobby #bigpharma #vonderleyen
Die Lizenz zu diagnostizieren - Wie eine deutsche Ärztegruppe die Deutungshoheit über, was als “normal” gilt, institutionalisiert und die Dreh-Tür Psychiatrie zur Meisterschaft treibt
Ein Versuch, die Frage nach der Handlungs(un)fähigkeit der Ärzteschaft zu beantworten im Rahmen eines BPE-Wettbewerbs (Bundesverband für Psychiatrieerfahrene e.V.)
von **********@********..***
“Heimsuchungen treffen tatsächlich alle Menschen gleich. Aber es ist schwer an sie zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen. Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute, er kann nicht lang dauern, es ist zu unsinnig und ohne Zweifel ist ein Krieg wirklich zu unsinnig, aber das hindert ihn nicht daran lange zu dauern. Dummheit ist immer beharrlich. Das merkte man, wenn man nicht immer mit sich selbst beschäftigt wäre …”
Versteht man psychiatrische Gewalt als Heimsuchung/Krieg und die Ärzteschaft als Entität, die mit sich selbst beschäftigt ist, ist das Zitat aus Camus “Die Pest” noch immer hochaktuell und zutreffend. Im Gegensatz zu Dr. Rieux, der sich mit stoischer Einsatzbereitschaft immer wieder der Beulenpest aussetzt, erscheinen Psychiater oft in Gruppen und versammeln sich um den (fixierten/sedierten) Patienten in einem isolierten Raum, ehe die Checkliste für Schizophrenie (robotisch) abgearbeitet wird. Alle Ärzte haben sich dem Menschen verpflichtet, doch während sich der (fiktive) Dr. Rieux unter Einsatz seines Lebens im wahrsten Sinne des Wortes die Hände schmutzig macht und mit dem Tod auf Tuchfühlung geht, kommt der Diagnostiker von heute im weißen Kittel, mit dem Stift, einem vorgefertigten Fragenkatalog und einer relativen fixen Idee, welches Verhalten als “krank”, d.h. “Schizophren”, “(hoch)psychotisch” oder ”schizo-affektiv”, gilt.
Die gewöhnliche, alltägliche Einleitungsfrage, die wohl auf Ansprechbarkeit oder Geistesgegenwärtigkeit des “Patienten” hindeuten soll - auch Verdachtsfälle werden bereits als solche bezeichnet, was immer bereits eine Krankheit voraussetzt - wie es denn (heute) gehe, stellt schon die erste Zwickmühle im kafkaesken Schloss des psychiatrischen “Prozesses” dar: ziemlich egal wie man antwortet, kann das Gesagte oder auch komplettes Schweigen (d.h. in der Akte “autistisch-schizophrenes Verhalten”) gegen einen ausgelegt werden. Man kann eigentlich nur verlieren, wenn man bereits aktenkundig ist oder durch Fremdanamnese “vor-”diagnostiziert wurde. Zudem verdeutlicht dieser Sachverhalt einen sehr wichtigen, oft unterschätzten Punkt, der im Kern des heutigen Diagnosesystems liegt: Welcher Juniorarzt wird in der Krankenhaushierarchie die Vordiagnose oder die “Einschätzungen” des Chefs schon öffentlich widersprechen? Wer über die Handlungsfähigkeit von deutschen Psychiatern sprechen will, sollte zumindest diese Überlegungen und Betroffenenerfahrungen zur Kenntnis nehmen…
Begreift man die Ärzteschaft als Interessengruppe im soziologischen Sinne, in all seinen Verflechtungen (Ärztekammer, Krankenversicherung und Pharmaproduzenten), Interessen (Stärkung und Förderung des Berufs im öffentlichen Bewusstsein und individueller beruflicher Erfolg), Notwendigkeiten (Personalmangel und Quotenerfüllung bei der Krankenbettbelegung) und (Gruppen-)dynamiken (“Group think” oder einfacher die blinde “Übernahme” von vorherigen Diagnosen oder Fremdanamnesen) bleibt vom weit verbreiteten Glauben an die Erhabenheit und Unabhängigkeit des medizinischen Sachverständigen in der Praxis wenig übrig. Schenkt man den Ärzten Gehör, so wird stets vom Personal- und Ressourcenmangel berichtet. Manche Zeitungen berichten auch von “Patienten”, die zu lange fixiert wurden, weil “nicht genügend Personal zur Verfügung stand”. Laut WHO Bericht jedoch wird nirgends so viel pro Kopf ausgegeben wie in Westeuropa und die Verkäufe von Psychopharmaka kennen seit den 1960ern nur eine Richtung: steil und kontinuierlich nach oben. Die Anzahl der Psychiater pro 100.000 beträgt im europäischen Schnitt 44,8 (als Vergleich: weltweit sind es 13)-zählt man ergänzende Bereiche aus dem Bereich geistige Gesundheit hinzu, wie Kinderpsychotherapeuten und Personal, liegt die Zahl noch höher. Doch hätten mehr Ressourcen in einem Falle wie Gustl Mollath, der nachweislich fast ein Jahrzehnt zu Unrecht auf Grundlage von Hörensagen seiner Lebenspartnerin und mit Billigung von Gerichten und Gutachtern eingesperrt war und generell als Symbol für psychiatrische Gewalt bekannt ist, wirklich etwas verändert? In der Troika zwischen Richter, Psychiater und medizinischem Gutachter kam es zu einer “Verschwörung der Gleichgültigkeit”, in der zwar nicht ein Einzelner gezielt dem Patienten/Betroffenen schaden wollte, es aber im Geflecht auch keinen Anreiz gab, diagnostische Fehler zu beheben oder zu korrigieren. Das Gericht verlässt sich auf den Gutachter als seine “Augen” und der Arzt “berät” den Gutachter, der Arzt gibt aber die Verantwortung für eine Einweisung ans Gericht ab. Alle können in Form eines weiteren abgerechneten Falles profitieren und sind zumindest auf dem Papier abgesichert. Das Risiko, grobe Fahrlässigkeit oder Rechtsbeugung nachgewiesen zu bekommen, läuft gegen null. Es “lohnt” sich also einfach weiterzumachen und der Aufwand, die Unterbringung zu verkürzen oder zu beenden, ist für das Individuum in diesem Kontext verhältnismäßig hoch. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen, aber solange das politische Bewusstsein für diese Form von Unrecht nicht mehrheitsfähig ist, wird auch wenig oder keine Aufarbeitung stattfinden. Frauen in den 1950ern wurde auch wenig Gehör geschenkt, wenn sie eine Vergewaltigung anzeigen wollten oder ein Schwarzer, der ebenfalls in dieser Epoche eine rassistisch motivierte Gewalttat ansprach…
Der Kunstgriff der Ärzteschaft besteht darin zu behaupten, dass sämtliche Verantwortung, die ein Akteur, der über Ressourcen und Deutungsmacht verfügt, automatisch per definitionem auszeichnen, an die Politik abzugeben: Wie die Korrespondenz mit dem BPE zeigt, ist der derzeitige Missstand auf die Politik und nicht auf die Medizin zurückzuführen. Der Verweis, dass Ärzte auch heute im Rahmen der Menschenwürde praktizieren müssen, erscheint da mehr als hohle PR-Floskel, die in der Praxis keine Verwirklichung findet.
Der derzeitige Diskurs um Lea de Gregorios Buch “Unter Verrückten sagt man du” und der Kommentar vom (lebensfremden) Harvard Psychiater, P. Sterzer, (vgl. FAZ vom 24.7.24) zeigen eine weitere Besonderheit in Bezug auf die Ärzteschaft auf: Statt den Status quo zu rechtfertigen, schwingt sich der Leiter der Klinik an die Spitze der kritischen Bewegung und spricht gegen psychiatrische Gewalt. PR-technisch gesehen ein exzellenter Zug vom Feinsten. “Einweisungen sind mein Brot und Butter, aber ich weiß als Leiter (der Abteilung) nichts von einem Einzelfall und ich bin Pro-Patientenrecht und Contra-Gewalt” - eine ähnliche Ich-Spaltung wird just jenen “behandelten” Menschen vorgeworfen und wurde bei Wächtern in der Geschichte und in Experimenten beobachtet! Wieso durchlaufen Psychiater keine Selbsterfahrung, wie Psychologen es machen müssen? Was ist mit dem Prinzip “primum non nocere” - das Grundprinzip “zuerst nicht zu schaden”? Haben die Gelehrten der Anatomie jemals überhaupt denn einige Minuten fixiert verbracht - geschweige denn Stunden und Tage? Wissen Pflegekräfte, wie es ist, über Monate nicht an die frische Luft zu dürfen und immer denselben “Kantinenfraß” vorgesetzt zu bekommen? Fixe Bettzeiten und Fernsehen bei gutem Benehmen, aber nur bis 21:00? Entzug von Medien und keinen Zugriff auf Bücher? Rationierung des Essens? Nicht-Aushändigen der Wahlunterlagen?
Innerhalb dieses Machtvakuums, in dem sich die Ärzteschaft Deutungshoheit erstritten hat (vgl. Rent-Seeking Studie in der amerikanischen Psychiatrie bis 1914 von Geloso aus dem Jahre 2021) könnte man ja meinen, dass wir im Land der Menschenrechte auch genügend Kontrollmechanismen haben: auf dem Papier auch hier zur Genüge. Doch Versprechen kosten nichts, und die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter sitzt 2023 finanziell auf dem Trocknen und kann die Kontrollarbeit nicht durchführen. Kontaktiert man Amnesty Deutschland in so einer Angelegenheit, kommt die generische Mail, dass Zustände in deutschen Gefängnissen und “Sorgerechtsstreitigkeiten” generell nicht beantwortet werden. Auch die FDP, als sog. freiheitliche Partei, antwortet mit Verweis auf den statisch wohl eher seltenen Sonderfall, dass einem Dialysepatienten mit Psychose eben geholfen werden muss, ob er/sie will oder nicht. Wieso gibt es mehr als doppelt so viele Einweisungen in Deutschland und Österreich als in Frankreich, wo die Ausgaben pro Kopf ähnlich hoch sind? Warum unterscheidet sich die durchschnittliche Verweildauer in Psychiatrie in europäischen Ländern so stark? Gibt es in auf der einen Seite der Landesgrenze etwa mehr “Kranke”, oder sind manche Krankenhäuser effizienter bei der Behandlung von Krankheiten, wie es uns vielleicht die Ärzteschaft weismachen will, wenn sie versucht, diese Unterschiede zu rechtfertigen?
Während in der Forensik zumindest ein Flyer mit Anlaufstellen ausgegeben wird, bei denen man sich als Patient beschweren kann, werden “normal Untergebrachte” (nach BGB und Landesgesetzen) nicht über ihre Rechte unterrichtet. Eine innovative, interessante Studie aus Österreich vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie versucht zumindest die Perspektive der Patienten selbst sowie etwa den Patientenanwälten im Alltag zu Papier zu bringen. Darin wird auch beschrieben, dass Patienten oft Schikanen ausgesetzt werden, die manchmal die Qualität/Dynamik eines “Stanford Prisoner Experiments” annehmen: (…)
Wenn du einmal einen Kugelschreiber brauchst, kriegst du den ganzen Tag keinen
Kugelschreiber. Oder wenn du einen Durst hast und du willst einen Liter Wasser,
der dir zusteht, kannst du fünf Mal hingehen vor das Kabäuschen von den Pflegern
– ‚Kann ich bitte eine Flasche Wasser haben?‘ – und du kriegst sie nicht. (…) Psychische Gewalt nennt man das. (…)
Aufklärung ist bekanntermaßen der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Der Ärzteschaft mangelt es an einem klaren Willen gegen die Verbrechen, die nun mal in einem solchen System finanziell lohnend sind und auch geschehen, vorzugehen.
Es mangelt an Rechenschaft (Accountability) und die Praxis zeugt von einer epistemologischen-disziplinären Blindheit, um nicht zu sagen Hybris: anhand von einigen Fragen feststellen zu wollen, ob jemand im “Hier und Jetzt” ist. Visiten sollten auf Wunsch des Patienten aufgezeichnet werden - ähnlich wie Body-Cams bei der Polizei.
Es mangelt an einer kritischen Introspektion der Zunft im Allgemeinen und des Wohlergehens des Einzelnen im Spezifischen, der/die meist mit Betonspritzen, Isolation und Fixierung gefügig gemacht wird. Wie viele Mollaths braucht es, bis ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel überhaupt nur angedacht wird? Wie lange bis sich die Ärzteschaft als agierende Partei sieht, mit eigenem Ermessensspielraum, Deutungsspielraum und Macht - de jure und de facto (agency) und nicht als “Opfer” des Gesundheitssystems und Bürokratiezwang? In China zahlt man seinen Arzt, wenn man gesund ist, warum werden Psychiater dann für “volle Betten” finanziell belohnt? Wer über Ressourcen verfügt und Gutachten erstellt, ist auch verantwortlich für die juristischen Konsequenzen, die daraus resultieren.
Es mangelt an Selbsterfahrung und dem epistemologischen Trugschluss, mit westlicher Medizin alles auf Gedeih und Verderb (medikamentös) bis aufs i-Tüpfelchen kurieren zu wollen… Dieser Ansatz von Ausmerzen ging jedoch schon von 1939 bis 1945 schief und Steven Spielbergs “Minority Report”, in dem magische Wesen Verbrechen vorhersehen und Menschen prophylaktisch einsperren, scheint aktueller denn je.
Wer vertritt eigentlich die Betroffenen im demokratischen Diskurs? #Berufspolitiker #Gesundheitssausschuss #MenschenrechteInDeutschland #Psychiatriegewalt #Piraten-Partei #metoo #madpride #MarcoMüllerHeppenheim #Psychiatrielobby #bigpharma #vonderleyen